So hat man Carmen vermutlich noch nicht gesehen: Büßer in weißen Roben und spitzen Hüten bevölkern die Bühne, als hätte man sich in die Autodafé-Szene von Don Carlo verirrt. Carmen erscheint wie eine Heiligenfigur auf einem Podest aus Blumen und Spitzen. Hinter dem Soldatenchor ganz in Rot hängt ein riesiges weißes Kruzifix.
Die baskische Regisseurin Marta Eguilior hat George Bizets Werk an der Opéra Royale de Wallonie-Liège in die „Semana Santa“, wie man in Spanien die Karwoche nennt, verlegt: Prozessionen, Selbstgeißelungen, verschleierte
Frauen, Männer in Büßergewändern. Es ist die Welt, aus der Don José kommt,
die ihn geprägt hat und die mit dafür sorgt, dass er Carmen am Ende ermordet.
Schon während der Ouvertüre sieht man, wie seine Mutter (mit
vollverschleiertem Gesicht) ihn als Knaben zurechtstutzt, zügelt, mit einem
Kamm in Form bringt.
Nun muss man der These nicht folgen, dass eine starke, fromme, regeltreue
Mutter die Femizide der Söhne zumindest mitverantwortet. Aber weil die
Bilderwelt, die Eguilior auch als Bühnengestalterin hier entfesselt, so stark ist, akzeptiert man Josés Abhängigkeit von der Mutter (die hier ja das katholische Machtgefüge repräsentiert) trotz seiner Klischeehaftigkeit. Man fühlt sich wie in einer von Pedro Almodóvar veredelten Telenovela. Überall dominieren die Farben Rot, Weiß, Schwarz. Die Taverne erinnert an ein Cabaret; im Gebirge treffen sich die Schmuggler in einem Dornenwald. Betitxe Saituas Kostüme spielen mit Mantillen, Volants, Flamencohaarkämmen und Uniformversatzstücken.

Die farbliche Entschiedenheit führt zu schönen Effekten, wenn etwa die roten Militärs die weiß gekleidete Micaëla derart bedrängen, dass die Masse sie vollkommen verschluckt. Wenn sie allerdings mit dem Brief der Mutter auf Don José losgeht, begreift man, warum das mit ihnen als Paar nichts werden kann: Er unterdrückt seine Triebe, sie giert nach ihm in derselben züchtigen (und züchtigenden) Übergriffigkeit, die auch seiner Mutter zu eigen war. Das Militär übt ähnlich disziplinierenden Druck aus. In Carmen findet Don José endlich eine Projektionsfläche jenseits von Hierarchien und Ordnungen, die Un-Heilige, die er nicht nur anbeten, sondern gelegentlich auch anfassen kann.
Wobei man schnell ahnt, dass man sich mit Ginger Costa-Jacksons Göttin auf
dem Prozessionspodest nicht anlegen sollte. Ihrer Bruststimme entlockt sie
Töne, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen, in einem brombeerfarbenen
Schwarzrot, das direkt auf den Unterleib zielt. Zugleich sind da ein Prickeln und eine souveräne Höhe, die sich mühelos in den Ensembles durchsetzt. Schonoptisch wirkt sie wie ein Varieté- oder Revuestar, ob im Kleid oder in Hosen, die alle ihren schmalen Körper betonen. Auch den Gesang treibt sie zuweilen Richtung Chanson und an den Rand des Sprechens. Beeindruckend, wie sie szenisch kein Femme-fatale-Klischee gestaltet, sondern einen Tingeltangel-Star mit Stummfilmaugen, hinter denen sich eine junge Frau verbirgt, die sich selbst nicht ganz geheuer ist.
Da hat Arturo Chacón-Cruz als Don José zunächst mehr Mühe. Sein
Muttersöhnchen in Uniform schaut gequält, während sich sein in der Mittellage etwas spröder Tenor nicht so recht in die lyrischen Passagen hineinfinden will.
Wenn er aber die Höhen attackiert, strahlt es hell. Die dramatischen
Zuspitzungen im zweiten Teil liegen ihm entsprechend gut. In der
Figurenführung fehlt es der Inszenierung am letzten Schliff. Im Finale finden Don José und Carmen eine große Intensität; beide wirken nach all den
Ankündigungen vom Mord völlig überrascht.

Als Micaëla findet Anne-Catherine Gillet herrlich lichte Spitzentöne; die Bögen ihrer großen Arie im Gebirge aber zirkelt sie eher mühsam ab. Pierre Doyen behauptet als Escamillo Dominanz eher, als dass er sie vokal und szenisch beglaubigt. In den Dialogen mit Carmen aber findet er zu überraschend warmen Tönen. Überhaupt toll, wie sich gerade in den operettenhaften Szenen der Taverne völlig harmonisch die Ensembles ergeben, was an der Souveränität von Elena Galitskayas Frasquita, Valentine Lemerciers Mercédès, Ivan Thirions Dancaïre und Pierre Derhets Remendado liegt. Lustvoll verschränken sich ihre frischen Stimmen zu einem an Mozart, Rossini und Offenbach geschulten perlenden Witz, der direkt in die Beine geht.
Apropos Beine: Viele szenische Vorgänge lagert Eguilior an Tänzer aus. Sara
Cano lässt sie in den Prozessionsmärschen schwanken, klopfen und stampfen, dann wieder in klackernde Flamenco-Schritte ausbrechen. Das schafft eine eigentümliche Atmosphäre, die sich erstaunlich gut mit Bizets Musik verbindet.
Weil sie oft im Mittelpunkt der Handlung stehen, wird der Chor gelegentlich zur Staffage. Aber er singt mustergültig, mit ausgeprägtem Sinn für die Textur:
genau gezirkelt in den Soldatenszenen, atmosphärisch dicht im Gebirge. Noch überraschender ist der kleine Kinderchor – so akkurat, stimmstark, szenisch präsent erlebt man ihn selten. Wenn die Jungs in Uniformen und die Mädchen im Schleier auftreten, später sich als Toreros und Stiere gegenüberstehen, ahnt man, wie tief diese gesellschaftlichen Prägungen gehen.
Die Partitur (in der Rezitativ-Fassung) liegt bei Leonardo Sini in guten Händen.
Wie die Inszenierung neigt auch sein Dirigat zuweilen zu plakativen Momenten; gerade zu Beginn knallt und pfeift das Militärische der Musik schrill. Später aber arbeitet er mit dem Orchester den Farbenreichtum und die Sensualität von Bizets Instrumentierung genau heraus, trägt die Sänger auf Händen, fordert sie auch gelegentlich heraus. So entsteht ein äußerst plastischer Klang, aus dem dann plötzlich das feine Vibrato der Soloflöte aufsteigt wie eine Ahnung, wie das alles auch hätte enden können: In einem Verständnis dafür, wie unterschiedlich Menschen sind. Aber dafür erweist sich das gesellschaftliche Korsett am Ende doch zu starr.

